Zum 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus
Dr. Arnold Schölzel, Berlin
Seit geraumer Zeit wird daran gearbeitet, die Geschichte des 8./9. Mai 1945 unter der Überschrift “Zweierlei Kriegsende” umzuschreiben. Das soll besagen: Nur ein Teil Europas wurde damals befreit, der andere tauschte eine totalitäre Herrschaft gegen eine andere, der faschistischen folgte die kommunistische Diktatur. Dieser Teil habe das Tor zur Freiheit nach 1990 doch noch durchschritten.
Die Erzählung diszipliniert, ist allerdings unwahr. Das lehrt ein Blick auf das Jahr 1933. Die Übergabe der Macht an den deutschen Faschismus brachte die damalige Hauptfront durcheinander. An ihr standen sich die größere kapitalistische Welt und die Sowjetunion gegenüber. Sofort nach 1917 vereinte sich die erstere mit gegenrevolutionären Kräften zu einem Interventionskrieg. Nach dessen Scheitern ging die sowjetische Führung davon aus: Ähnliches wird sich wiederholen
Zunächst galt die kommunistische Gefahr nicht als akut, aber die Sowjetunion stabilisierte sich, während die kapitalistischen Mächte von der Weltwirtschaftskrise ergriffen wurden. Als die deutschen Faschisten an die Staatsmacht kamen, war aber soviel klar: Sie wandten sich gegen die Siegermächte im Westen und wollten ein Kolonialreich im Osten – Paris, London und Washington suchten nach einer Strategie.
Die Alternative war: Ein Sicherheitssystem zusammen mit der Sowjetunion oder Unterstützung der Aufrüstung Hitlers. Letztlich entschieden sich Paris und London für letzteres, das Symbol dafür war das Münchner Abkommen von 1938, das Hitler grünes Licht für den Feldzug nach Osten gab. Ihr Einsatz für Polen kam nur zögerlich. Dennoch kam es zur Antihitlerkoalition: Großbritannien besaß ein vitales Interesse am Standhalten der sowjetischen Verteidiger. Das vor dem Krieg verweigerte Bündnis wurde geschlossen und hielt bis über die Tage des Sieges in Europa hinaus.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges brachte aus der Sicht der kapitalistischen Großmächte zwei Hauptresultate: Das faschistische Deutschland, der Aggressor und Rivale, liquidiert. Und: Im Verlauf des Krieges war der ältere, 1917 erstandene Rivale, die Sowjetunion, wirtschaftlich und militärisch erstarkt.
Demgegenüber wurde die neue Hauptkampflinie bestimmt, insbesondere durch Churchill. Das führte zu dem Prozess, der in der Gründung des antisowjetischen Militärbündnisses NATO gipfelte.
Die faschistische Diktatur in Deutschland bildet so gesehen eine Art Intermezzo in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es wurde insgesamt durch den Versuch geprägt, in der Sowjetunion eine sozialistische Gesellschaft zu verwirklichen. Das weitete sich nach 1945 in Europa, Asien und bis vor die Küste der USA aus. Das zum Scheitern zu bringen war und ist Generalkurs der kapitalistischen Großmächte, mit der Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg. Die These vom “zweierlei Kriegsende” gehört zum Blendwerk, das diese Tatsache verdecken soll.
Arnold Schölzel ist seit 2000 Chefredakteur der Tageszeitung „junge welt“. Er machte das Abitur am Alten Gymnasium in Bremen, desertierte aus politischen Gründen aus der Bundeswehr in die DDR und studierte an der Humboldt-Universität in Berlin. Er promovierte dort über Karl Korsch.